Mein Therapeut wartet im Keller…

In meinem Job begleite und unterstütze ich Menschen. Beim Fahrradfahren in der Natur komme ich wieder in den Kontakt mit mir selbst. Zuhause in meiner Freizeit lebe ich meine Kreativität aus: beim Nähen von Taschenunikaten, Kreieren von Naturkosmetik oder Experimentieren in der Küche mit gesunden Nahrungsmitteln. Mein Name ist Maria und die folgende Alltagsgeschichte beruht auf einer wahren Begebenheit.

 

Therapie - Natur - Mindfulness Magazine

Es ist Montagmorgen, kurz nach fünf, als mein Wecker klingelt. Mit viel Mühe quäle ich mich aus dem Bett. Die Nacht war traumreich und anstrengend. Wie jeden Morgen, bereite ich mir mein Frühstück vor, gehe ins Bad, ziehe mich an. Jeder Handgriff sitzt, alles ist zeitlich genau durchgeplant. Als ich am Bahnhof ankomme, informiert eine freundliche Dame über die Lautsprecheranlage, dass die S-Bahn fünfzehn Minuten Verspätung hat. Meine Anschlussbahn ist natürlich weg und so komme ich völlig abgehetzt in der Klinik an. Ausgerechnet heute, wo ich alleine bin.

Kaum ist das Telefon angeschaltet, habe ich bereits Herrn Köhler in der Leitung, der sich darüber beschwert, dass sein Zimmer keine Seesicht hat, sondern nur in den Garten. Das habe er bereits vor Wochen so gebucht. Er tobt, wird immer lauter und will den Direktor persönlich sprechen. Irgendwie schaffe ich es, ihn zu beruhigen. Kurz darauf meldet sich Zimmer 228. Frau Dinkelmeier schreit mir ins Ohr, ich müsse auf der Stelle kommen! Man habe ihr Hörgerät geklaut. Sogleich mache ich mich auf den Weg, durchsuche ihren Koffer und jede Ritze im Zimmer. Bis ich schliesslich beide Hörgeräte zwischen der Matratze eingeklemmt finde. Frau Dinkelmeier ist überglücklich. Ich bin froh, den Fall so schnell abgeschlossen zu haben. Um elf Uhr steht eine Führung auf dem Programm. Junge, dynamische, wissbegierige Versicherungsvertreter möchten unsere Klinik kennenlernen. Voller Freude und Begeisterung zeige ich ihnen all das, was einen Aufenthalt bei uns so besonders macht. Die Begeisterung schwappt über. Motiviert verabschieden sich die jungen Leute. Wieder klingelt das Telefon. Eine Kollegin aus der Pflege meldet mir, dass sich Herr Müllenreich weigert, weiterhin mit seinem Nachbarn das Zimmer zu teilen, da dieser schnarche. Ich mache mich auf den Weg zu ihm. Kaum habe ich das Zimmer betreten, faucht mich Herr Müllenreich an und droht mir, seinen Zimmernachbarn zu tyrannisieren, falls man ihm nicht ein Einzelzimmer anbiete. Natürlich auf Kosten der Klinik, wie er betont. Langsam geht mir der Hutdeckel hoch. Doch ich verkneife mir ein böses Kommentar, lege mein freundliches Gesicht auf, und verabschiede mich mit dem Versprechen, eine Lösung für ihn zu finden.

Nach dem Mittagessen besuche ich Frau Rottweiler. Vielleicht ist es das letzte Mal, dass ich sie sehe. Sie ist noch jung, hat drei Kinder und Metastasen im ganzen Körper. Heute hat sie erfahren, dass auch die Ärzte nichts mehr für sie tun können. Als ich ihr Zimmer verlasse, überkommt mich eine tiefe Traurigkeit. Auch der Tod gehört zum Alltag. Doch viel Zeit habe ich nicht für meine eigenen Emotionen. Das Telefon klingelt. Der Kollege von der Rezeption bittet mich, bei Herrn Smith vorbeizugehen, da er dringend ein Hotel für seine Tochter benötigt. Sie lebt im Ausland und will ihn für einige Tage besuchen. Sämtliche Hotels in der Umgebung sind ausgebucht. Schliesslich werde ich dann doch noch fündig. Herr Smith ist dankbar. Beinahe hätte ich es vergessen: Herr Meier hat heute Geburtstag. Ich bringe ihm eine Flasche Rotwein und eine Karte vom Direktor. Fast die gesamte Station hat sich bereits im Zimmer versammelt, als ich ankomme. Gemeinsam singen wir "Happy Birthday" und Herr Meier strahlt über beide Ohren.

Inzwischen ist es 17 Uhr. Ich habe viele Menschen getroffen, jeder trägt seine eigene Geschichte mit sich herum, jede Begegnung war eine spannende Erfahrung. Treppauf, treppab, Korridor hin, Korridor her, 12,8 Kilometer Fussmarsch liegen hinter mir. Ich schalte das Telefon aus, fahre den Computer herunter und begebe mich auf den Heimweg.

Zuhause setze ich mich an den Tisch und starre an die Wand. Ich bin erschöpft, ausgelaugt und leer. Die Leere fühlt sich schrecklich an. „Geh in den Keller!“, ertönt eine innere Stimme. „Du musst dich ausruhen und abschalten! “, sagt eine andere. „Dein Therapeut wartet auf dich. Er wird dich beglücken!“ „Quatsch! Leg dich aufs Sofa und schau einen Film!“ Ich bin im Dilemma. Schliesslich überwinde ich meinen inneren Schweinehund, ziehe mich um und mache mich auf den Weg in den Keller...

...zu meinem türkisfarbenen Gravelbike. Es wartet darauf, gefahren zu werden. Die ersten Minuten auf dem Weg in den Wald fühlen sich an, als würde mein Körper zwei Zentner wiegen. Mit jedem Meter, den ich fahre, löst sich der Ballast, den ich den ganzen Tag mit mir herumgeschleppt habe. Angestaute Emotionen kommen hoch, alles zeigt sich und das ist ok. Endlich, der Kopf wird frei und Leichtigkeit überkommt mich. Ich kann mich wieder spüren und fühle mich verbunden. Verbunden mit der Natur. Als ich die Kellertür hinter mir schliesse, durchströmt mich ein Gefühl der Freude und inneren Zufriedenheit. Wieder einmal hat mein „türkisfarbener Therapeut“ grossartige Arbeit geleistet. Heute Nacht werde ich sicherlich wunderbar schlafen.

(Alle Namen der Patienten sind frei erfunden)