Narzissmus oder das Gefühl nicht da zu sein

Narzissmus ist das neue Kurkuma im Psycho-Küchengarten und wird zurzeit so inflationär benutzt wie kaum ein anderer Begriff aus der Seelenkunde. Am Küchentisch der Psychologie ist das Phänomen der egoistischen Liebe die erklärende Zutat für manipulatives Verhalten und anstrengende toxische Beziehungen. Dabei vergessen wir zu schnell, dass wir alle zu Beginn unseres Lebens NarzisstInnen sind, die erst lernen müssen, die Liebe zu teilen. Wir lesen in den Medien, wie gefährlich Narzissmus ist und dass man sich vor solchen Menschen im Beruf und in der Beziehung schützen muss. Auf der anderen Seite wird die narzisstische Persönlichkeitsstörung aus der internationalen Klassifikation psychischer Krankheiten der WHO im Jahr 2022 verschwinden und somit nicht mehr als Diagnose bei PatientInnen auftauchen. Wenn das nicht schon verwirrend genug ist, was treibt NarzisstInnen eigentlich wirklich um? Sind sie so böse, wie es immer beschrieben wird?

Foto:  Inga Gezalian

Die Dynamik der Selbstliebe

Mein Vater, der 2017 verstorben ist, hatte eine narzisstische Persönlichkeitsstörung. Er fragte mich selbst einmal nach seiner Diagnose, weil er sich als gespalten erlebte. Seine mittlerweile dritte Ehefrau, die ihn zunächst in der Beziehung als total liebevoll und einfühlsam wahrnahm, bekam plötzlich seine wütende, zerstörerische und bösartige Seite zu spüren und sah keine andere Möglichkeit, als sich schnellstmöglich wieder von ihm scheiden zu lassen.

Im klinischen Umfeld hingegen und in meiner Arbeit als Psychotherapeutin erlebte ich über die ganzen sechs Jahre in der Klinik tatsächlich nur zwei oder drei PatientInnen, die wirklich eine narzisstische Persönlichkeitsstörung hatten. Und hier kommt der entscheidende Punkt: Das fundierte Wissen über Narzissmus als Störung ist zu gering. Es liegt in der Natur der Sache, dass das narzisstische Selbstbild davon geprägt ist, niemanden zu brauchen und sich ganz sicher nicht behandeln zu lassen. Somit fehlen uns Daten und Hintergründe zu Symptomen und Verhalten.

Die WHO lässt aber nur Klassifikationen in den Katalog, die entsprechend oft gesehen und diagnostiziert werden. Das bedeutet: Nur weil narzisstische Menschen in der klinischen Psychotherapie nicht gesehen werden, gibt es sie natürlich trotzdem. Und andersherum wird eventuell die differenzierte Aufmerksamkeit für das narzisstische Leiden verschwinden, wenn es keine Diagnose mehr gibt.

Narzissmus und Bindungstrauma

In frühester Kindheit gibt es zunächst keine Trennung zwischen uns und den Dingen oder den Menschen um uns herum. Diese Einheit bringt einen großen Vorteil für das Lernen von Emotionen. Wir sehen uns in einem anderen wichtigen Menschen, unseren Eltern. Wir lernen über ihr Verhalten und ihre Reaktionen auf uns, wer wir sind und was an uns liebenswert ist. Das ist die Grundlage für eine gesunde Selbstliebe. Dies setzt ein emphatisches Elternteil und eine sichere Beziehung voraus. Werden wir ignoriert oder bekommen wir ein falsches Spiegelbild gezeigt, hat das Folgen für unsere Selbstwahrnehmung und für unsere Selbstliebe.

Narziss hat kein Gegenüber. Er sieht sich selbst nur in der Spiegelung des Wassers, heißt es in der Sage. Würde er versuchen, das Spiegelbild zu berühren, würde es sich in kleinen Wellen auflösen. Er bleibt psychologisch gesehen unsichtbar und allein. Rilke beschrieb die erfolglose Suche nach Liebe von Narziss in seinem gleichnamigen Gedicht mit den Worten: „Dort ist es nicht geliebt. Dort unten drin ist nichts als Gleichmut überstürzter Steine. Und ich kann sehen, wie traurig ich bin.“

Narzisstische Störungen der Persönlichkeit sind ein Ergebnis einer psychisch isolierenden Kommunikation und einer ausbleibenden frühen liebevollen Bestätigung, bzw. handelt es sich um ein Bindungstrauma. Durch die Bindungstraumatisierung lernt das autonome Nervensystem, wovor es sich schützen muss und reagiert im erwachsenen Leben auf Mücken, als ob es Elefanten wären. Die emotionalen Reaktionen sind heftig, meist unverständlich und nicht vorhersehbar für BeziehungspartnerInnen. Narzisstische Störungen sind entsprechend schwer zugänglich für die seelische Heilung, die in einer Beziehung zu finden ist.

NarzisstInnen sind also nicht böse, sondern reagieren mit Misstrauen, existenzieller Angst, Wut und Beschämung auf beziehungsrelevante Situationen. Sie haben gelernt, die emotionale Abhängigkeit zu anderen Menschen zu fürchten. Dennoch brauchen sie, wie wir alle, das Gefühl gesehen und geliebt zu werden. Wie sich das auf eine Partnerschaft auswirkt, wird im kommenden Artikel behandelt.

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