Seele in Not: Wo wir in psychischen Krisen Hilfe finden

Während die psychische Belastung in der Corona-Pandemie zunimmt, bleiben Therapieplätze weiterhin knapp. Wie kommt man an einen Therapieplatz und welche Tools können dabei helfen, die Wartezeit zu überbrücken? Ein Erfahrungsbericht.

Foto: Katharina Weins

Zuhause gegen Klinikzimmer

Ich liege in einem viel zu kleinen Bett in weißer Bettwäsche und starre auf das gerahmte Bild, das etwas zu schief für meinen Perfektionismus an der ansonsten kahlen Wand hängt. Seit über vier Wochen nervt mich dieser Anblick aber mir fehlt die Energie, das Bild geradezurücken. Stattdessen wälze ich mich energielos auf der weichen Matratze hin und her, lausche den für meinen Geschmack viel zu lauten Motoren der Autos, die auf der Straße vor meinem Balkon vorbeifahren und beobachte die glitzernden Silberfische, die sich in dem kleinen Bad, das zu meinem Zimmer gehört, sehr wahrscheinlich heimischer fühlen, als ich es je tun werde. 

Seit einem Monat lebe ich nun schon in einer unterfinanzierten und unterbesetzten Rehaklinik in einer kleinen Kurstadt irgendwo in Deutschland. Ich musste mich ein zweites Mal überwinden mein gemütliches Zuhause gegen das triste Klinikzimmer zu tauschen, denn meine erste Behandlung wurde aufgrund der Corona-Pandemie vorzeitig abgebrochen. Wie eine Qualitätsmanagerin beim TÜV verbringe ich nun also wieder jeden Tag damit, einen Punkt nach dem anderen auf meinem Laufzettel abzuhaken: Blutabnahme, Frühsport, Frühstück, Gruppentherapie, Mittagessen, Pause, Nordic Walking durch den Kurpark, Einzeltherapie, Abendessen, Yoga und der Versuch zu schlafen. Am nächsten Tag das ganze wieder von vorn. Insgesamt kämpfe ich 18 Wochen in drei verschiedenen Klinikaufenthalten mit emotionalen Gesprächen, anstrengender Bewegung und vorgekochtem Essen gegen eine innere Stimme an, die nicht aufhören möchte mir zuzurufen: “Du bist nicht gut genug für diese Welt. Du musst dich mehr anstrengen um glücklich zu sein. Alle anderen führen ein zufriedenes Leben. Du bekommst es nicht hin. Dein Leben ist nicht lebenswert.”

Bleiben wir bei meinem TÜV-Beispiel: Der Prüfbericht meiner HU weist immer noch einige Mängel auf. Mein Motor wird wohl nie wieder die Höchstleistung bringen, die mein Umfeld und ich von ihm gewöhnt sind, meine Lenkung schlägt häufiger den schwierigeren Weg ein und ich muss mich darin üben, die Bremse rechtzeitig durchzudrücken. Deshalb gehe ich nach wie vor regelmäßig in die Werkstatt: Eine Psychotherapeutin hilft mir dabei, trotz angeschlagenem Motor, klemmender Lenkung und schwerfälliger Bremsen auf den überfüllten Straßen den Anschluss zu behalten und inmitten des schnellen und lauten Verkehrs in meiner Spur zu bleiben.

Im Nachhinein empfinde ich es als großes Glück, mir bereits vor dem Ausbruch von Covid-19 einen Therapieplatz gesichert zu haben.

Denn auch ohne eine globale Pandemie wird bei jeder fünften berufstätigen Person in Deutschland zwischen dem 18. und 69. Lebensjahr einmal im Leben eine Depression diagnostiziert. Doch nur ein Bruchteil der Betroffenen sucht sich Hilfe. Gleichzeitig vermuten noch einmal genauso viele Menschen ohne eine ärztliche Diagnose, im Laufe ihres Lebens schon einmal an einer Depression erkrankt gewesen zu sein.

vgl. Stiftung Deutsche Depressionshilfe, 2021

Die Corona-Pandemie verstärkt diesen erschreckenden Trend. Ein rasendes Herz, schweißnasse Hände, ein rebellierender Magen, schwindende Konzentration, schmerzende Verspannungen in Kopf, Rücken oder Kiefer, unruhige Nächte oder nicht enden wollende Grübelgedanken: Immer mehr Menschen erleben die unterschiedlichen körperlichen Symptome, die lang anhaltender Stress durch Gefühle wie Einsamkeit, Überforderung, Angst und Hilflosigkeit bei uns auslösen kann. 32% der Deutschen berichten über eine Verschlechterung der eigenen psychischen Verfassung während der Pandemie (vgl. Axa, 2020 S.4). Viele von ihnen benötigen – wie ich – einige Jahre, um sich einzugestehen, dass sie Hilfe brauchen. Manche gehen diesen Schritt nie und versuchen stattdessen mit den Folgen der Erkrankung zu leben. Einige schaffen es sogar.

Sich einzugestehen, dass man Hilfe benötigt, erscheint häufig als der schwierigste Schritt. Und ich gebe zu: Auch mir fiel es extrem schwer in einer Gesellschaft, die sich an Leistungen orientiert, und in einer Generation, der alle Türen offen stehen, zugeben zu müssen, dass ich nicht mithalten kann. Doch genauso schwierig war es für mich, nach meinem Hilferuf fachliche Unterstützung zu bekommen.

Es braucht viel Mut und Kraft, die eigene Scham und Antriebslosigkeit zu überwinden, um unzähligen Therapiepraxen die immer gleich klingende Anfrage auf den Anrufbeantworter zu sprechen, in Sprechstunden und Probesitzungen immer wieder dieselben standardisierten Fragen zu beantworten und zusätzlich auf das kleine bisschen Glück zu vertrauen, dass man irgendwann einen freien Therapieplatz erhält und damit die Hilfe, die man so dringend benötigt. 

Umfragen bestätigen meine persönliche Erfahrung: Im Jahr 2019 warteten rund 40 Prozent der PatientInnen mindestens drei bis neun Monate auf den Beginn einer Behandlung, wenn zuvor in einer psychotherapeutischen Sprechstunde festgestellt wurde, dass sie psychisch krank sind und deshalb behandelt werden müssten. Die Corona-Pandemie verstärkt diesen Druck: Durch die zunehmende emotionale Belastung erhalten niedergelassene PsychotherapeutIinnen heute deutlich mehr Anfragen (vgl. BPtK, 2021). Diese Zahlen sind vor allem deshalb so erschreckend, weil Betroffene oft erst dann mit der Suche beginnen, wenn es ihnen bereits sehr schlecht geht. Die gute Nachricht: Es gibt Angebote, die dabei helfen können, akute Krisen zu überwinden und die Wartezeit auf einen Therapieplatz zu überbrücken.

Psychische Krisen: Hier gibt es Hilfe

In einer akuten Krise helfen kurzfristig Gespräche in der Hausartzpraxis oder offene Sprechstunden in psychiatrischen Kliniken. Außerdem ist die Telefonseelsorge rund um die Uhr kostenlos unter 0800 111 0 111 oder 0800 111 0 222 erreichbar. In dringenden Fällen sollte unbedingt und ohne schlechtes Gewissen der Notruf (112) gewählt werden.

Auch der Weg zu einem langfristigen ambulanten Therapieplatz ist nicht so steinig, wie wir ihn uns häufig vorstellen – wenn wir uns erstmal auskennen. Seit 2017 führt dieser Weg über die psychotherapeutische Sprechstunde. Dieses Kennenlernen zwischen TherapeutIn und PatientIn kann eine erste Orientierungshilfe sein. Das Gespräch dauert in der Regel 50 Minuten und dient dazu festzustellen, ob ein Verdacht auf eine seelische Krankheit vorliegt und weitere fachliche Hilfe notwendig wird. Während der Corona-Pandemie dürfen diese Sitzungen auch per Video durchgeführt werden. Ein Termin für die Psychotherapeutische Sprechstunde kann über die Terminservicestellen der Kassenärztlichen Vereinigungen (116 117) vereinbart werden oder über die persönliche Suche. Dafür eignen sich spezielle Suchmaschinen im Internet, die Nachfrage nach einer Liste bei der eigenen Krankenkasse oder ein Spaziergang durch die Nachbarschaft – Sie werden feststellen, dass neben sehr vielen Türen Praxisschilder mit Telefonnummern angebracht sind. Reicht die Energie dafür nicht aus, lohnt der Anruf bei den Terminservicestellen der Kassenärztlichen Vereinigungen. Denn diese müssen innerhalb von vier Wochen Termine für die psychotherapeutische Sprechstunde vermitteln, in akuten Fällen sogar innerhalb von zwei Wochen. Falls notwendig, kann direkt im Anschluss an die psychotherapeutische Sprechstunde eine Akutbehandlung mit bis zu 24 Einzelsitzungen à 25 Minuten begonnen werden (vgl. Bundesministerium für Gesundheit, 2021).

Ist keine direkte Intensivbehandlung notwendig, folgen zunächst mindestens zwei so genannte “probatorische Sitzungen” – abgeleitet von dem lateinischen Wort „probare“ für „ausprobieren“. Dort soll u.a. festgestellt werden, ob PsychotherapeutIn und PatientIn eine vertrauensvolle Therapiebeziehung zueinander aufbauen können und welche Therapieform in Frage kommt. Ohne eine Antragstellung übernimmt die Krankenkasse vor dem eigentlichen Beginn der ambulanten Psychotherapie bei Erwachsenen bis zu vier solcher Probesitzungen à 50 Minuten, bei Kindern und Jugendlichen bis zu sechs Sitzungen. Auch diese Gespräche dürfen während der Corona-Pandemie per Video stattfinden. Bereits nach der ersten probatorischen Sitzung kann die TherapeutIn einen offiziellen Antrag auf Kurzzeit- oder Langzeittherapie stellen (vgl. KBV, 2021).

Online-Therapien und Mental Health Apps

Um die Wartezeit auf einen Therapieplatz zu überbrücken, greifen immer mehr Menschen auf Online-Therapien, psychologische Internetkurse und Gesundheits-Apps zurück, deren Nutzung von vielen Krankenkassen bezuschusst wird. Ein Anruf bei der eigenen Krankenkasse kann helfen, unter den vielen verifizierten und nicht verifizierten Angeboten das passende zu finden. Auch die qualifizierte Vermittlungsplattform „ama mind“ unterstützt bei der Suche nach qualitätsgeprüften Gesundheitsangeboten im Internet.

„ama mind“ Gründer Ludwig Bolay ist Sohn einer Psychiaterin und hat daher früh bemerkt, wie wichtig die psychische Gesundheit und entsprechende Hilfsangebote für die Gesellschaft sind. Immer wieder wurde er aus seinem Umfeld gefragt: Wo gibt es geeignete Hilfsangebote? Kann ich diesem Angebot vertrauen? Heute helfen er und sein Team bei ama mind dabei, diese Fragen zu beantworten. Dabei fokussieren Sie sich auf digitale Angebote.

Diese sind überall schnell verfügbar und es braucht keine langen Wartezeiten wie bei der Psychotherapie.

Ludwig Bolay – ama mind

Einige Beispiele: die Meditations- und Achtsamkeits-App 7Mind, die MindDoc Online-Therapie der Schön Klinik, die Online-Gesundheitskurse von selfapy, die Meditations-App headspace (auch als Video-Serie bei Netflix zu finden), das Online-Therapieprogramm deprexis, die Emotions-App happify und das Online-Selbsthilfeprogramm moodgym.

Neben psychosozialen Beratungsstellen, privat bezahlten Lebenscoachings, Selbsthilfegruppen und bezuschussten Gesundheitskursen der Krankenkassen, können auch Entspannungstechniken helfen, Stress zu kompensieren und negative Emotionen zu regulieren. Im Internet sind viele kostenlose Anleitungen zu finden – beispielsweise für Meditation, Progressive Muskelentspannung (PMR), Autogenes Training, Yoga, QiGong und Pilates.

Ob und wann Apps und Online-Kurse geeignet sein können, Wartezeiten auf einen Therapieplatz zu überbrücken, wird in Fachverbänden noch kontrovers diskutiert. Für mich sind Gesundheits-Apps und Online-Gesundheitskurse wertvolle Hilfsmittel, begleitend zu einer Psychotherapie. Denn diese Maßnahmen ersetzen in meinen Augen – und in den Augen vieler ExpertInnen – keine Gesprächstherapie. Dass mein Motor überhaupt wieder läuft, verdanke ich der wertvollen Arbeit und hilfreichen Unterstützung vieler PsychotherapeutInnen in ambulanten und stationären Behandlungen. Mein Rat: Traut euch, euren Motor in der Werkstatt wieder auf Vordermann bringen zu lassen. Auch wenn dieser Weg viel Mut, Geduld und Kraft kostet.

Literaturverzeichnis

Axa Deutschland (Mental Health Report, 2020): Mental Health Report – Die unsichtbare dritte Welle trifft die Psyche – Wie Covid-19 Einfluss auf die Psyche nimmt – eine Studie von AXA, 2020

Bühring, Petra (Online-Psychotherapie, 2016): Online-Psychotherapie: Sinnvoll nur als Ergänzung, in: Bundesärztekammer (Arbeitsgemeinschaft der deutschen Ärztekammern), Kassenärztliche Bundesvereinigung (Hrsg.), Deutsches Ärzteblatt, 2016, Heft 4, S. 145, Köln, Deutscher Ärzteverlag GmbH, 2016

Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) (Wartezeiten, 2018): Ein Jahr nach der Reform der Psychotherapie-Richtlinie – Wartezeiten 2018, Berlin, 2018

DAK & IGES (Psychoreport, 2021): Psychoreport 2021 – Entwicklungen der psychischen Erkrankungen im Job: 2010 – 2020, 2021

Internetquellen

Stiftung Deutsche Depressionshilfe (Deutschland Barometer, 2021): Betroffene gehen im Job zurückhaltend mit Erkrankung um – Bundesbürger überschätzen Arbeit als Ursache der Depression
(2021-11-09) [Zugriff 2022-01-24] 

BPtK (Defizit Behandlungsplätze, 2021): BPtK-Auswertung: MonatelangeWartezeiten bei Psychotherapeutinnen
(2021-03-29) [Zugriff 2022-01-24] 

Bundesministerium für Gesundheit (Psychotherapeutische Sprechstunde, 2021): Psychotherapeutische Sprechstunde
(2021-03-26) [Zugriff 2022-01-25] 

KBV (Psychotherapie, 2021): Das ambulante Versorgungsangebot
(2022-01-25) [Zugriff 2022-01-25] 

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