Unser Bedürfnis nach Wohnen hat sich verändert.

Die gegenwärtige Pandemie hat uns viele Monate wieder zurück in unsere Nester getrieben. Plötzlich ist uns bewusst geworden, wie sehr wir mit unserer Umgebung verbunden sind und wie unsere Räume unser Gemüt sowie unsere Arbeit beeinflussen. Endlich haben unsere Sinne wieder Zeit, den Raum um uns herum zu spüren. Die Konsequenz: Lange Menschenreihen vor den Möbel- und Bauhäusern, als hätten wir uns die ganzen Jahre lang falsch oder gar nicht eingerichtet. Warum ist das so? Was hat sich hinsichtlich unserer Bedürfnisse nach Raumgestaltung und Bauweise seit der Pandemie verändert und wie werden wir in Zukunft wohnen?

Illustration: Rebecca Bernau Design

Wenn wir uns ansehen, wie und warum die Menschen seit Tausenden von Jahren bauen, ist eines klar: Der Raum verändert sich im Laufe der Zeit, damit er sich den neuen Wünschen des Menschen anpassen kann und somit die Existenz gesichert ist. Man könnte also sagen, dass es eigentlich egal ist, wie unsere Häuser und Wohnungen in der Vergangenheit gebaut und eingerichtet wurden, weil wir mit unserer Raumgestaltung ja sowieso den Trends der Zukunft folgen?

Ein wichtiger Aspekt wird in dieser Thematik jedoch meist vergessen: Was unsere Urbedürfnisse sind und wie wir auf Farben, Formen und Dimensionen reagieren. Hier hat sich in den letzten 300.000 Jahren erstaunlicherweise nur wenig verändert. Dieser Status quo ist tief in unserem Gehirn und Nervensystem verankert. Wie oft erlebe ich, dass Kunden sich ein Haus mit den neuesten und teuersten Trends einrichten und sich dann dort absolut nicht heimisch fühlen. Warum ist das so?  

Hier kann die Wissenschaft – speziell die Neuroarchitektur – Antworten liefern. Psychologen, Neurologen und Architekten beobachten und messen, was in unserem Körper passiert, wenn wir bestimmte Räume betreten und länger dort verweilen. Die Erkenntnisse der Neuroarchitektur sowie die Lehren älterer Zivilisationen deuten alle darauf hin, dass ein Raum im wesentlichen zwei Bedürfnisse erfüllen sollte, damit wir uns darin wohlfühlen: Schutz und Bewegung. Fehlt einer dieser Aspekte über längere Zeit, kann uns das langfristig physisch und psychisch krank machen.

Seit es den Menschen gibt, sucht er nach Schutz und Bewegung.

Damals zogen wir uns in Höhlen zurück, um Schutz vor gewaltigen Naturelementen wie Wind, Wasser und wilden Tieren zu suchen. Dazu suchten wir uns Orte aus, an denen wir uns frei bewegen und somit ungestört sammeln und jagen konnten. Hauptsächlich bauten wir, um uns zu schützen und unsere Überlebenschancen zu erhöhen. 

Einige Zeit später wünschten wir uns, dass wir schneller, organisierter und effizienter werden. So wurden Räume während der industriellen Revolution und der Nachkriegszeit eher praktisch und sauber. Es dauerte nicht lange, bis diese weniger belebten und kalten Räume unsere Sinne langweilten. Unser Bedürfnis nach Schutz und Geborgenheit war zwar gedeckt und wir kamen einfacher und regelmäßig an Lebensmittel sowie Medizin heran, doch gleichzeitig mangelte es uns an Bewegung. Dies nicht nur im Sinne von körperlicher Bewegung, sondern auch in Form von Veränderung und Vielfalt. Wir sind von Natur aus Informationssammler und benötigen daher auch immer neue Reize, das ist unser menschliches Urbedürfnis. Wenn wir nichts Neues erleben können und unsere Bewegung eingeschränkt wird, leidet unser Körper und unsere Seele. Neurologen sind sich sicher: Ist unser Bedürfnis nach Bewegung physisch und geistig nicht möglich, fängt unser Gehirn an abzubauen, zu degenerieren und zu erkranken.

So wurde es wichtig, Schönheit und exklusives Design mit in die Raumgestaltung zu bringen. Der Konsum Boom brachte weitere Folgen: überfüllte und reizüberflutete Wohnungen, die ihre Bedeutung und Aufmerksamkeit verloren haben. Und nun? Unsere Räume platzen aus allen Nähten und wir sehnen uns nur so nach mehr Leichtigkeit und Bewegungsfreiheit sowie nach gesünderen Lebensräumen. Räume, die uns regenerieren und in denen wir uns wohlfühlen. 

Wohnen während der Pandemie

Heute schützt uns unser ganz persönlicher Raum immer noch vor Wind und Regen, aber vor allem auch vor unseren eigenen Emotionen, unangenehmen Begegnungen und Erlebnissen.

Als wir vor Kurzem wieder zurück in unsere Nester gezwungen wurden, haben wir gemerkt, wie sehr uns dieser Schutzfaktor fehlt. Denken wir an das Wort „Schutz“ kommen direkt Bilder wie die liebevolle Umarmung einer Mutter oder eine kuschelige Ecke, in der man sich am Ende des Tages entspannt niederlassen kann. Schutz ist nicht nur etwas Praktisches wie zum Beispiel ein Regenschirm. Schutz sollte uns auch Geborgenheit schenken, in unseren Emotionen unterstützen und psychisch stärken.

Im letzten Jahr haben viele von uns bemerkt, dass sie zu Hause eigentlich keinen Rückzugsort mehr auffinden, an dem sie sich aufladen, erholen und geborgen fühlen können. Man hat Jahre zuvor die meiste Zeit wohl eher außerhalb der eigenen vier Wände verbracht, wie zum Beispiel auf der Arbeit. Somit wurden die Büros immer grüner, bekamen Sofas, Lounge-Ecken und Billard Tische für die kleinen Kaffeepausen. Es wurde viel Geld in schöne, coole und angenehme Geschäftsräume investiert. Das eigene Zuhause wurde jedoch häufig vergessen.

Auch hinsichtlich unseres Bedürfnisses nach Bewegung haben einige Menschen während der Pandemie sehr deutlich gespürt, dass die eigenen Räume plötzlich langweilig werden. Wir haben uns an den Möbeln, Wandfarben und der Dekoration sattgesehen. Es wurde wild ausgemistet, weil man bemerkt hat, dass viel zu viel im Weg steht und wir uns in unserem eigenen Zuhause eigentlich nicht frei und leicht bewegen können. Selbst in der Einrichtung haben sich viele nicht wiedergefunden und kamen sich vor wie in einem fremden Nest. Dazu kam, dass wir uns vermehrt in der virtuellen Welt aufgehalten und übermäßig viele Stunden vorm Fernseher, der Spielkonsole und dem Computer aufgehalten haben. Der Grund: Wir konnten dort das Bedürfnis nach Bewegung in Form von neuen Erlebnissen und Wissen befriedigen. Leider auf Kosten unserer Gesundheit.

Die Auswirkungen auf unser Wohlbefinden

Unsere Räume haben das Potenzial, unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden positiv sowie negativ zu beeinflussen. Die Wichtigkeit der Lebensräume und die Umgebung für Menschen und deren seelische Gesundheit ist zwar bekannt und erforscht, wird leider jedoch noch nicht ernst genug genommen:

In 2012 hat das auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) in ihrem Faktenblatt für psychische Gesundheit unter dem Titel „Einflüsse auf die psychische Gesundheit“ festgehalten. Darin steht: „Psychische Gesundheit und Wohlbefinden werden nicht nur durch individuelle Merkmale beeinflusst, sondern auch durch die sozialen Umstände, in denen sich Menschen befinden, und die Umgebung, in der sie leben. Diese Determinanten interagieren dynamisch und können den psychischen Zustand einer Person bedrohen oder schützen.“

Wohnen und Räume in der Zukunft

In Zukunft werden uns unsere Häuser dank smarten Technologien auch vermehrt emotional zur Seite stehen: Wenn uns kalt wird, erhöht sich die Temperatur im Raum mit Hilfe von künstlicher Intelligenz. Wenn wir im Winter in depressive Stimmungen geraten, werden morgens automatisch die Lichter heller eingestellt und die Wandfarben angepasst. Wenn wir länger das Haus nicht verlassen, werden die engsten Freunde benachrichtigt, damit sie nachschauen können, ob es uns gut geht.

Meiner Meinung nach werden Gesundheit, Flexibilität & Tradition hinsichtlich Architektur, Raumgestaltung und Bauen, Stichwörter der Zukunft sein. Räume, die zu unserer Gesundheit beitragen, in denen wir die Vergangenheit ehren, die Gegenwart genießen und die Zukunft gestalten können. Räume, die uns dazu inspirieren, gesunde Gewohnheiten zu pflegen und achtsam miteinander den Tag zu erleben. Die uns daran erinnern, wie wichtig es ist, trotz all der Automatisierung und Technologie, das eigene Leben so zu gestalten, damit es uns als Individuum nachhaltig richtig gut geht. 

Regelmässige Mindfulness Inspiration in dein Postfach: