Digitaler Minimalismus – ein Selbstversuch

Im Mai legte ich eine digitale Pause ein. Sie sollte zunächst zwei Monate andauern. Nun ist bereits November und ich befinde mich immer noch im „Limbo“ irgendwo zwischen digitalem Entschlacken und  dem Finden einer neuen Umgangsweise mit den Medien, welche im Einklang mit meinen Bedürfnissen steht, glücklich macht und mich trotzdem in Verbindung mit der digitalen Welt hält. Denn wenn wir ehrlich sind, ganz ohne geht es heute fast nicht mehr, oder?

Im Artikel berichte ich nicht nur von meiner Erfahrung mit der vollkommenen Abstinenz zur digitalen Welt, sondern vielmehr von der Besinnung auf das Wesentliche, einer Art digitalem Minimalismus.

Digitaler MinimalismusDie allgegenwärtige Verlangsamung unserer Welt in diesem Frühling brachte eine für mich überfällige Ruhezeit mit sich. Relativ schnell spürte ich, wie angenehm es war, weniger vorzuhaben. Ich war mehr zu Hause, ließ mich treiben, las ein gutes Buch auf dem Sofa. So fiel mir auch „Digitaler Minimalismus – besser leben mit weniger Technologie“ von Cal Newport in die Hände. Es kam genau zum richtigen Zeitpunkt, denn mein digitales Verhalten wollte ich schon lange prüfen.

Obwohl ich mich selbst nicht als Smartphone oder Social Media süchtig bezeichnen würde, ist mir immer wieder aufgefallen, dass ich mehrere Male am Tag unbewusst zum Smartphone griff. Meist erwischte ich mich dabei, nachdem ich schon mehrere Minuten unbewusst durch den Startfeed der Social Media Kanäle scrollte. Der Ablauf war dabei immer gleich: Ich machte schnell die Social Media oder E-Mail App auf und zog mit dem Daumen nach unten, um die Neuigkeiten abzufragen. Gab es welche, breitete sich in mir ein zufriedenes Gefühl aus und ich war in dieser Welt für einige Zeit gefangen. Wenn nicht, legte ich das Telefon mit einer leichten Enttäuschung zurück. Studien zufolge reicht es schon, wenn das Telefon in Sichtweite ist, um diese unbewussten Griffe danach auszulösen. Ich kann diese Studien aufgrund meiner Erfahrung durchaus bestätigen.

Unser tiefer Wunsch nach Zugehörigkeit 

Schon oft habe ich über den Vergleich zwischen Social Media und Glücksspiel gelesen. Jede Neuigkeit regt in unserem Gehirn einen Dopaminausstoß an, befriedigt unsere Neugier und macht uns nach und nach abhängig. Ein neuer Post ist wie Roulette spielen: Bekommt mein Post nun Likes oder nicht? Gewinne oder verliere ich? Im Buch „Digitaler Minimalismus“ geht Cal Newport noch etwas tiefer und erklärt die psychologischen Tricks, welche sich Designer von Apps einfallen lassen, damit wir ihre Anwendung möglichst häufig benutzen. Für den Erfolg einer Applikation ist eine Art Abhängigkeit natürlich von Vorteil. Der „Like Button“ rückt auf einmal in ein anderes Licht, wenn einem klar wird, wie dabei mit unserem Belohnungssystem gespielt wird. „Mein Post trifft auf Anklang – Jackpot!“ Doch was passiert mit unserer Psyche, wenn es keine oder gar nur wenig Aufmerksamkeit gibt? Diese gefährlichen Phänomene, die gerade im Jugendalter einen erheblichen Einfluss auf unsere psychische Gesundheit haben, werden immer mehr untersucht. So kam eine Studie von Psychologinnen aus Kanada und Australien auf das erschreckende Ergebnis, dass schon ein einziges auf Facebook oder Instagram geteiltes Selfie bei Studentinnen Angst und Selbstzweifel weckt.

Auch der Wunsch nach Zugehörigkeit, ein tief verankertes menschliches Bedürfnis, wird uns in der digitalen Welt zum Verhängnis. Um dies zu erklären, muss man etwas in unsere Vergangenheit blicken und findet einen anthropologischen Mechanismus, der bei uns tief verwurzelt ist. Als soziales Wesen könnte das späte Beantworten einer Nachricht für uns den Ausstoß aus der Gruppe bedeuten, was in der Steinzeit lebensbedrohlich war. Auch wenn es heute nicht mehr unser Leben bedroht, unser Wohlbefinden könnte es sicher beeinträchtigen, wenn wir nicht mehr dazugehören. Einen solchen sozialen Fauxpas wollen wir uns nicht leisten und sind daher immer verfügbar.

„The Social Dilemma“

Eine kürzlich veröffentliche Dokumentation auf Netflix - „The Social Dilemma“ - führt uns diese unbewussten Mechanismen auf ähnliche Weise vor Augen.  Dabei wird noch klarer, wie stark wir jeden Tag durch die digitalen Medien und deren Algorithmen beeinflusst werden, was auch eine Polarisierung unserer Gesellschaft mit sich zieht. Gefällt uns etwas, zeigen uns Algorithmen vermehrt Inhalte zu genau dieser Thematik. So entgeht uns eine Vielfalt an Themen und den verschiedensten Sichtweisen. Nach einiger Zeit verfallen wir einer bestimmten Meinungsrichtung, einer Person oder einer Gruppe und verlernen so das kritische Denken und Hinterfragen. Die Gefahr dieser Polarisierung wird uns in der gegenwärtigen Krise, in der die Menschheit immer mehr in ihrer Meinung gespalten wird, tagtäglich bewusst. Bandura -  ein kanadischer Psychologe - erklärt dieses Phänomen des sozialen Vergleichs, bei dem wir uns dem Verhalten einer Gruppe, der wir zugehören wollen, angleichen und das Verhalten anderer Gruppen ablehnen. Dieser Prozess läuft ständig unterbewusst in uns ab. Manches lehnen wir ab, anderes nehmen wir an, wir beobachten, lernen und imitieren. Schlussendlich werden wir so durch die Medien ständig in unserem Verhalten beeinflusst, ohne es zu merken.

Neben all diesen kritischen Punkten bringt uns die Digitalisierung natürlich auch viel Nutzen. Wir bleiben im Kontakt mit Menschen an fernen Orten, können uns von Personen mit ähnlichen Interessen inspirieren lassen oder schnell wichtige Nachrichten abfragen. Der Ansatz von "Digitaler Minimalismus" ist es nicht, alle digitalen Medien zu verabschieden. Es geht vielmehr darum, den wahren Nutzen für uns zu identifizieren und den Gebrauch der Medien darauf zu beschränken. Sei es, dass wir bewusst zwei Mal am Tag unsere E-Mails lesen oder einem Künstler auf Social Media folgen, der uns wirklich inspiriert – alles, was uns wirklich Nutzen bringt, macht Sinn. Bei jeder digitalen Aktivität können wir uns also selbst hinterfragen: Erfüllt diese einen wirklichen Nutzen, der im Einklang mit unseren Werten steht und macht sie uns dauerhaft glücklich? Viele Aktivitäten wie stundenlanges Scrollen, Vergleichen oder jegliche Tätigkeit, welche Stress hervorruft, würde durch diesen Test fallen. 

"So toll unsere digitale Welt ist, das analoge Leben ist einfach schöner."

Doch bevor man diese Fragen beantworten kann, empfiehlt Cal Newport eine Zeit des eiskalten Entzugs. Bei mir hieß das: Löschen der Social Media und privaten E-Mail Apps von meinem Smartphone, ausschalten aller Benachrichtigungen und nur einmal am Tag auf private Mails antworten. Anwendungen für Textnachrichten habe ich behalten, da sie mich mit vielen Freunden und der Familie verbinden. Durch die fehlenden Benachrichtigungen konnte ich die Häufigkeit des Nutzens bewusst wählen. Zudem habe ich mein Smartphone oft weit weg von mir gelegt oder einfach Zuhause gelassen.

Natürlich hatte ich ab und zu die Angst, Wichtiges zu verpassen. Die neue innere Ruhe brachte ein ganz anderes Geschenk und auch Herausforderungen mit sich. Was mache ich nun mit all dieser neu gewonnen Zeit? Ich übte mich im einfach Sein. Ohne den Kopf im Smartphone zu vergraben. Ich sah die Welt um mich an, ich sah den Menschen in die Augen, ließ meine Gedanken wandern. Manchmal erwischte ich mich dann wieder beim unbewussten Griff zum Smartphone, doch meist schmunzelte ich und steckte es wieder zurück in die Tasche. Statt einem Monat, wie im Buch empfohlen, wurden aus der kompletten Abstinenz schnell zwei und ich fragte mich, ob ich jemals wieder zurück möchte.

Nach zwei Monaten wäre es an der Zeit gewesen, einen Mittelweg zu entdecken. Meine Applikationen nur dafür zu nutzen, wo sie mir wirklich Vorteile bringen. Spannend zu beobachten ist, dass ich nun mit etwas Abstand kaum einen Vorteil erkennen kann. Meine wahren Freunde habe ich weiterhin gesehen und wurde über ihre Neuigkeiten informiert. Ich habe vielleicht weniger Bilder von meinem Essen oder von Sonnenuntergängen auf einer digitalen Bilderwand verewigt, stattdessen aber wieder gelernt, einen solchen Moment in seiner Flüchtigkeit zu genießen, statt ihn künstlich einfangen zu wollen, aus der Angst, etwas Schönes zu verpassen. Ich habe das Gefühl von Langeweile schätzen gelernt, mit all seinem Luxus, welches es mit sich bringt. Vor allem habe ich erkannt, dass ich eigentlich gar nicht mehr komplett zurück möchte. Zu groß ist mein Respekt vor den unterbewussten Mechanismen, die sich in meinem Gehirn abspielen und mich wieder in den Strudel des Dopamin-Rauschs ziehen könnten.

Wie die Zukunft also mit mir und den digitalen Medien aussieht, ist noch offen. Doch eines ist mir klar geworden: So toll unsere digitale Welt ist, das analoge Leben ist einfach schöner.

 

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